Obduktion: Holger K. starb an Hypokrisia major

abgestellter LKW-Hänger, 2 Sessel, Bahnhof Berlin-Moabit
Eismorgen (hier am ehemaligen Bahnhof Berlin-Moabit). Wer jetzt keine warme Stube hat, muss frieren und vielleicht sterben.
Sonntagmorgen, kurz vor 5 Uhr in der Frühe, Bahnhof Bergedorf. Valentinssonntag. Für einige die Zeit, Herzen zu verschenken. Zeit zum Sterben für einen anderen. Herr K., wohl ein Obdachloser, angeblich schwer krank, angeblich betrunken, sitzt im Grillimbiss und will nicht gehen. Oder kann nicht gehen, das wird nicht klar. Er soll aber gehen, denn jetzt wird hier sauber gemacht. Da wird ihm geholfen, das Lokal zu verlassen, denn allein kann sich Herr K. nicht auf den Beinen halten. Ob aus Trunkenheit oder wegen seiner angeblichen Krankheit, man weiß es nicht. Fakt ist, er kann oder will nicht hinaus und so stützen sie ihn und setzen ihn bei minus 4 Grad im zugigen Bahnhofsdurchgang auf den Boden, ob er will oder nicht. Wenige Minuten später sei er tot gewesen, schreibt die Zeitung...

Es kommt zu einer polizeilichen Untersuchung, wie immer, wenn nicht unter ärztlicher Aufsicht gestorben wurde. Oder wenn es nicht irgendein Obdachloser war, der sich unauffällig davongemacht hat. Wäre Herr K. nicht auf diese Weise in die ewigen Jagdgründe gegangen, es hätte wohl niemand auch nur ein Wort über seinen Tod verloren.

Aber Herr K. hat die Unverschämtheit besessen, vor aller Augen zu sterben. Mit seinem Abgang hat er ein Exempel statuiert, stilvoll sogar in der passenden Kulisse der frühsonntäglichen Bahnhofspassage: »Schaut her, ich lebte mitten unter Euch, aber Ihr habt nicht einmal soviel Menschlichkeit in Euch, mich in meiner Not zu beschützen.«

Doch dieser Satz kommt leise. Zu leise und, Hand auf Herz, auch viel zu unbequem und zu mahnend. Viel lauter, weil viel bequemer zu verstehen ist da das Ergebnis der Obduktion: Herr K. sei an seiner Erkrankung gestorben, Fremdeinwirkung werde derzeit ausgeschlossen. So jedenfalls wird der Polizeisprecher Andreas Schöpflin in der Bergedorfer Zeitung zitiert: »Im Zusammenhang mit dem Tod sehen wir derzeit keinen strafrechtlich relevanten Sachverhalt.«

In Hamburg leben laut offizieller Verlautbarung in diesem Winter rund 1000 Obdachlose. 350 Schlafplätze gebe es, so die selbe Quelle. Wo wärmen sich die übrigen 650, wo sterben sie? Und wieviele weitere Menschen sterben, weil sie, chronisch krank mit Parkinson, Multipler Sklerose, Epilepsie o. dgl. auf dem Weg zur Arbeit in den Schnee gefallen sind und allein nicht wieder hochkommen? Bekommen sie mehr als einen angewiderten Seitenblick von Passanten und den Satz: »Schlimm! Schon am frühen Morgen besoffen.« Unterlassene Hilfeleistung darf gar kein Straftatbestand sein, sonst gäbe es auf einen Schlag in Hamburg allein mindestens 650 potentielle Kläger.

Aber keine Angst vor solchen schweren Gedankengängen. Auch und gerade als gestandener Hypokrit kann man ja mal wieder in die Kirche gehen oder in die Moschee und die Absolution des Herrn erfahren. Und anschließend am Stammtisch und im Damenkränzchen über das »nutzlose Gesocks« und das »Geschmeiß« schwadronieren, das dem rechtschaffenen Bürger auf der Tasche liegt. Die Erkrankung des Herrn K. heißt Hypokrisia major – größtmögliche Heuchelei der selbsternannten Gutmenschen, gnadenlose Vernachlässigung der Schwächsten in unserer wohlsituierten Gesellschaft. Die hat ihn umgebracht, und alle haben zugeschaut.

Statt wenigstens die Nummer zu wählen, die jedes Vorschulkind kennt: 110 oder 112.

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Kommentare

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Andrea Madadi am :

Liebe Carin, dein Artikel über Holger F. ist mir unter die Haut gegangen. Vielen Dank für deine klaren offenen Worte.
Herzliche Grüße
Andrea

Carin Schomann am :

Liebe Andrea, ich danke Dir fuer Deinen Kommentar. So ein Echo finde ich sehr wichtig, gerade dann, wenn das Thema die Schwachen in unserer Gesellschaft betrifft. Weil er zeigt, dass eben doch nicht alle wegschauen -- so wie der hilfsbereite Buerger, der sich am Ende noch um Holger F. gekuemmert hat. Leider kam er zu spaet und konnte den Schaden, den der Unverstand der jungen Leute aus dem Imbiss angerichtet hat, nicht mehr verhindern.

Und dass es Unverstand war und nicht Kaltherzigkeit, das muessen wir annehmen -- in dubio pro reo --, solange die Untersuchungen nichts anderes herausbringen.

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